… Auch wenn unsere Gehirne ähnlich ticken

1992 – Heinrich Heine Universität Düsseldorf – Vorlesung Hirnanatomie. Wir Psychologen fragten uns: was hat das mit uns zu tun? Wir erfuhren u.a. von dem deutschen Nobelpreisträger Otto Heinrich Warburg, einer der Väter der bildgebenden Verfahren (Warburg-Hypothese, 1930).

Mit Hilfe dieser Verfahren gelingt es den Neurobiologen heute immer differenzierter, „funktional unterschiedliche, doch miteinander verbundene Regionen oder Module im Kortex des Gehirns zu lokalisieren. Diese Module können dann mit unterschiedlichen Bewusstseinstätigkeiten des Probanden verknüpft werden. Liest, spricht, freut oder ängstigt sich eine Versuchsperson, ist in bestimmten Regionen des Kortex auch eine erhöhte Aktivität der neuronalen Prozesse zu beobachten“ (P. Wolf, 2000).

Irgendwie interessant, hilfreich zunächst für die klinische Psychologie, war mein Gedanke. In der Tat wurden die Erkenntnisse der Neurophysiologie zunächst stark im klinischen Bereich genutzt – Depression, Epilepsie, Schizophrenie, Phantomschmerz …

Seit 2006 werden so erhaltene Erkenntnisse vermehrt auch auf den Arbeitsalltag übertragen. Denn immer mehr Beschäftigte – nicht nur Manager – nutzen Neuro-Pusher wie Modafinil (Schlafbedürfnis verringern), Ritalin (Konzentration steigern), Prozac (gesenktes Stressempfinden) und Kokain (Versagensängste reduzieren), um den Arbeitsalltag und damit verbundene emotionale Belastungen zu meistern (s.a. C. E. Elger, 2009). Die Neurowissenschaften geben Hinweise darauf, was diese extremen Belastungen im Kopf bewirken und wie wir darauf Einfluss nehmen können.

Also, warum diese Erkenntnisse nicht nutzen, um den Belastungen, die mittelfristig Krankheit begünstigen, präventiv entgegenzuwirken? Warum nicht für sich selbst und die Mitwelt den Stress reduzieren, wenn´s sogar einfach sein kann?
Naja, ganz einfach nicht, denn damit etwas besser wird, müssen wir etwas anderes tun – und wer tut das schon gern?

Und auch dafür hat die Neurophysiologie eine Erklärung …

Unser Gehirn besteht aus bis zu 100 Mrd. Nervenzellen, die über 1 Trillion Synapsen miteinander verbunden sind. Jedes Neuron ist mit 30 Tausend anderen Neuronen vernetzt. Die Länge aller Nervenbahnen beträgt 5,8 Mio. km, das entspricht 145 Erdumrundungen. Das Gewicht unseres Gehirns entspricht in der Regel ca. 2. % unseres Körpergewichts, es verantwortet jedoch 20% des Sauerstoffverbrauchs. Das männliche Gehirn wiegt im Durchschnitt 1.375 g, das weibliche 1.245 g, Albert Einsteins Gehirn wog 1.230 g.

Allein die Masse ergibt noch keine Klasse

In dieser Vielzahl aus Neuronen, Synapsen und Bahnen konnten 4 Hirnareale von besonderer Bedeutung identifiziert werden (s. Abb. unten). Davon 3 Gehirnsysteme auf der unbewussten Ebene, sie tun also ihren Dienst, ohne dass wir diese Aktivität explizit steuern können.

Auf der Suche nach dem Kick

Das Belohnungssystem. Es wird aktiv bei Freude, Zufriedenheit, Verstehen und Lust sowie bei der Vorfreude darauf. Es mag nette Menschen, Fairness und Vertrauen. Es mag lernen und die Welt verstehen, nur Wissenserwerb ohne Transfer macht keine Freude, es fehlt der Sinn.

Bei Überfüllung geschlossen? Niemals

Das Gedächtnissystem als Aktenschrank unserer Informationen. Hier wird gesammelt, sortiert, strukturiert, unsere „Schubladen“ entstehen. Bei Überfüllung geschlossen, das kennt dieser Aktenschrank nicht, also wird komprimiert, minimiert, abstrahiert. Im beschaulichen Informationsdörfchen im Kopfe des Kindes entstehen im Verlaufe des Lebens neue Datenautobahnen, Umgehungsstraßen und Informationsparkplätze. Diesen Prozess nennt man Lernen, und das geschieht ein Leben lang.

Was Hänschen nicht lernt, kann Hans umso mehr!

Das Emotionssystem mag die Vorfreude auf Positives wie das Belohnungssystem. Und wird nahezu hyperaktiv, wenn´s darum geht, negative Emotionen (Angst, Wut, Ekel, Panik) zu bewältigen und uns in Zukunft davor zu schützen.
Deswegen fassen wir nur einmal auf die heiße Herdplatte und verbrennen uns auch nur einmal den Mund. Bei Aktivität dieses Schutzsystems sind wir kurzzeitig denk- und handlungsunfähig, danach umso aufmerksamer.    
Jedes der drei unbewussten Systeme bearbeitet eingehende Information auf seine Weise, verstärkend i.S. von „mehr davon“, sortierend i. S. von „was kenne ich schon?“ oder abwehrend i.S.  „weg damit“.

Die Qual der Wahl

Aus der Vielfalt dieser bearbeiteten Information erhält dann das Entscheidungssystem die bewusste Qual der Wahl. Es ergänzt „aktiv“ die Informationen aus den unbewussten Gehirnsystemen durch die Rationalität von sozialen Normen, Langzeitausrichtung und Strategie. Für kleine Kinder ist dies noch besonders schwer (sie kennen das Experiment mit dem Überraschungsei? Versuchsleiter zum Kind: „Du erhältst ein Überraschungsei. Wenn Du das nicht isst, bis ich wiederkomme, erhältst Du ein zweites“ und geht.). Bei den wenigsten Kindern ist das Entscheidungssystem schon genug ausgeprägt, um die Belohnung bewusst lange genug aufzuschieben, denn das unbewusste Belohnungssystem schreit: „Ich will sofort.“
Erst im Verlaufe unserer Sozialisierung erleben wir, zunächst von außen (Eltern, Erziehern etc.) gesteuert, die positive Wirkung eines Belohnungsaufschubs, eines Kompromisses oder auch eines guten Ergebnisses nach besonderer Anstrengung.

Wir machen uns die Welt, wie sie uns gefällt

Die Gehirnleistung besteht demzufolge darin, aus der Vielzahl der Informationen Ursache–Wirkungs-Zusammenhänge zu erkennen und dementsprechend Vorhersagen für die Zukunft zu treffen – wie verhalte ich mich am besten, wenn …, damit …. Das ist gut und gesund, sicherlich besser als planloses Verhalten. Dieser Plan gibt Sicherheit, die wir alle in gewissem Maße lieben, also wehren wir uns gegen Unsicherheit. Das Gehirn liebt Routine. Es fällt uns leicht, neue Informationen derart in das bestehende System einzuordnen, dass alles beim Alten bleibt. Dies bemerken wir täglich z.B. beim Zeitunglesen. Wo bleiben Sie hängen? In der Regel bei schon bekannten Themen, oder? Das Gute daran sehen Sie hier:

D45 G3HT J4 W1RKL1CH!

Ehct sras! Gmäeß eneir Sutide eneir Uvinisterät, ist es nchit witihcg, in wlecehr Rneflogheie die Bstachuebn in eneim Wort snid, das ezniige was wcthiig ist, das der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoiin snid. Der Rset knan ein ttoaelr Bsinöldn sein, tedztorm knan man hn onhe Pemoblre lseen. Das ist so, weil wir nicht jeedn Bstacheubn enzelin leesn, snderon das Wort als gzeans enkreenn. Ehct ksras! Das ghet wicklirh! Und dfüar ghneen wir jrhlaeng in die Slhcue!

Was heißt das für Führung und Zusammenarbeit? Transferhinweise finden Sie im Juni 24 hier

Zitationen:
Amunts, K. (2017) Festvortrag 2017: Gehirn, Computer und Erkenntnis. Nordrhein-Westfälische Akademie der Wissenschaften und der Künste. www.fz-juelich.de
Elger, C. E., (2009). Neuroleadership. Erkenntnisse der Hirnforschung für die Führung von Mitarbeitern. Haufe
Filipp, S.H. (2000a). Ein allgemeines Modell für die Analyse kritischer Ereignisse. In: Filipp, Sigrun-Heide (Hrsg., 2000). Kritische Lebensereignisse. 3. Auflage. Weinheim: Beltz
Hasler, F., Neuromythologie. Eine Streitschrift gegen die Deutungsmacht der Hirnforschung. (2015) Transcript
Holmes, T. & Rahe, R. (1967). Holmes-Rahe life changes scale. Journal of Psychosomatic Research, Vol. 11, pp. 213-218.
Laumen-Schiel, M., (2013). Evaluation des SCG Selbstprofil®: Längsschnittstudie zur Selbstwahrnehmung von Persönlichkeitsaspekten im Beruf. www.publications-rwthaachen.de
Reisyan, G. D., (2013). Neuroorganisationskultur. Moderne Führung orientiert an Hirn- und Emotionsforschung. Springer Gabler
Salge, T.-O., (2018) in: Certo 01 2018, 6
Wolf, P., (2000). “Literature and the irreducibility of consciousness”, in: Journal of Literary Semantics 29 (2000), 75-80.